Einschränkung und Freiheit
Von SP Sissach, 21. Januar 2021
Gastbeitrag von SP-Landrat Ernst Schürch, Rünenberg
Wahrscheinlich mögen Sie die Medienberichte zu Corona schon gar nicht mehr hören und lesen. Trotzdem möchte ich in dieser Carte Blanche einige Gedanken dazu aufs Papier bringen. Wir leben nun seit bald einem Jahr mit und in der Pandemie und den je nach Lage unterschiedlichen Einschränkungen unseres Alltags. Wir haben genug von Corona und sehnen uns nach einer Zeit ohne Einschränkungen. Ans Tragen der Maske, häufiges Händewaschen und regelmässiges Stosslüften haben wir uns schnell gewöhnt, falls wir mit diesen Massnahmen weiterhin arbeiten können. Schwierig sind ohne Zweifel die faktischen Arbeitsverbote für viele Menschen. Wenigstens scheinen die politisch Verantwortlichen mittlerweile doch verstanden zu haben, dass wir die Betroffenen angemessen entschädigen und unterstützen müssen. Das sollte in unserem reichen Land eigentlich möglich sein. Trotzdem müssen wir die Sorgen der Menschen ernst nehmen, wenn sie ihre Existenz bedroht sehen.
Mit zunehmender Dauer werden auch die Einschränkungen in der Freizeit schwierig. Zurzeit können wir neben der Arbeit noch Lebensmittel einkaufen oder zu Hause bleiben. Oder uns mit Abstand in der Natur bewegen, obwohl das in einigen Wintersportorten nicht wirklich zu gelten scheint. Die Einschränkungen nagen an den Nerven und der Geduld. Meine Frau und ich gehen sehr gerne wandern. In diesen Tagen mit dem herrlichen Winterwetter sind Wanderungen besonders schön, gerade weil es selten vorkommt, dass wir so viel Schnee haben. Trotzdem sehne ich mich nach dem ungezwungenen und spontanen Besuch eines Kinos, eines Konzerts, eines Theaters, eines Museums oder nach einem feinen Abendessen in einem Restaurant. Ich vermute, dass es vielen Menschen ähnlich geht. Durch die ungewohnten Einschränkungen scheinen gewisse Charakterzüge stärker zum Vorschein zu kommen. Bei nicht wenigen Menschen liegen die Nerven ziemlich blank.
An dieser Stelle gehen meine Gedanken einige Jahrzehnte zurück. Meine Mutter kam 1934 in Ostdeutschland zur Welt. Als Mädchen hat sie den Krieg hautnah miterlebt, als junge Frau die Nachkriegszeit im zerstörten Deutschland. Im Gespräch mit ihr über diese Zeit wird mir immer wieder klar, wie gut wir es trotz Pandemie haben und dass ich auf hohem Niveau jammere. Sie musste in diesen Jahren ums Überleben kämpfen, Lebensmittel und Material zum Heizen organisieren oder im Krieg stehlen. Sie hatte keine Freizeit, es ging täglich um die Existenz. In unserer Zeit sind wir es nicht mehr gewohnt, auf etwas zu warten oder zu verzichten. Vielleicht haben wir auch ein wenig verlernt, uns auf das wirklich Wesentliche in unserem Leben zu konzentrieren und zu freuen. Alles scheint sofort verfügbar. So gesehen ist es nicht verwunderlich, dass wir die Pandemie als schwierig und belastend empfinden, auch wenn wir nicht krank sind und arbeiten dürfen. Wenn ich mir vergegenwärtige, was meine Mutter in jungen Jahren erlebt hat, dann werde ich gelassen. Ich wünsche allen Menschen gute Gesundheit und freue mich trotzdem auf die unbeschwerte Zeit nach Corona.
Ernst Schürch, Landrat SP, Rünenberg
Dieser Beitrag erschien als «Carte Blanche» am 19. Januar in der Volksstimme.